"würgende Beklemmung" SÜDDEUTSCHE ZEITUNG


Der Reisende (DE)
nach dem Roman von Ulrich Alexander Boschwitz

Landestheater Schwaben 2019
Großes Haus
Bühne & Kostüme: Mareike Delaquis Porschka
Musik: Cico Beck
Dramaturgie: Anne Verena Freybott

Mit: Agnes Decker, David Lau, Tobias Loth, Klaus Philipp, Franziska Roth, André Stuchlik

Fotos: Monika Forster

Bereits mit den ersten rhythmisierten Chören und Soli setzt beim Zuschauer ein untrügliches Missempfinden ein, das sich im Lauf der zweistündigen Aufführung zu würgender Beklemmung verdichtet. (…) Die kluge Kathrin Mädler geht das analytisch an, trocken und ohne jeden pathetischen Bibber. Klaus Philipp gibt den Silbermann denn auch mit schmerzender Nüchternheit. Wie auch die anderen, gesichtslosen Prototypen gleich, unterkühlt darstellen, wie der Mensch im Zweifelsfall funktioniert. Schön ist das nicht.
Mädlers Gefühlsaskese aber verstärkt die Empathie des Zuschauers, auch, weil er angehalten ist, die Metaebene des Stückes mit zu bedenken. Sie denkt mittels des "Reisenden", ganz ohne politisch korrektes Zeigefingergewackel, Geschichte weiter von der Pogromnacht bis zum Anschlag in Halle an Jom Kippur. Den genialen Bildkommentar dazu schuf Mareike Dalquis-Porschka. Denn das braune Stoff-Dings bläht sich immer mehr auf zum zähnefletschenden Monster. Die schlafenden Hunde nämlich sind längst wieder wach. Am lautesten grölen die Feinde der Demokratie, zum Verwechseln ähnlich denen am 9. November 1938. Geschichte, wiederholt sie sich wirklich nicht?
Süddeutsche Zeitung, Eva-Elisabeth Fischer, 3. November 2019

Menschen folgen gern dem Magnetismus der ungebremsten Macht, die als Treibstoff Hass und Ausgrenzung benötigt. Sie stellen sich um und dumm. Wie Silbermann in dieser Geschichte ungläubig staunend erkennen muss, dass er dieser Treibstoff ist, macht der Memminger Theaterabend berührend – und die Berührten quälend – deutlich. (…)
Durch ein rasiermesserscharfes Licht, durch dramatische, gehetzte Musik (von Cico Beck), durch das allmähliche Entstehen eines bühnenfüllenden atemberaubenden Schlussbilds aus Ballonseide, durch die von Gesichts-Bandagen und Blond-Perücken entstellten Gesichter (Bühne und Kostüme: Mareike Delaquis-Porschka), durch ein ständiges Verrücken der Figuren in diesem verrückten Gesellschaftsspiel wird in einer hoch konzentrierten, ungebremsten, zweistündigen Bühnen-Schussfahrt gezeigt, was jedem einzelnen sonst blühen kann. (…)
nachtkritik, Christian Muggenthaler, 1. November 2019

Das passende Stück zur rechten Zeit: Präzise arbeitet Mädler mit ihrem sechsköpfigen, mit blonden Haaren und bandagierten Köpfen ausgestatteten Ensemble im ständigen Rollenwechsel heraus, mit welcher Weit- und Hellsicht der Autor Boschwitz schon lange vor Auschwitz das Menetekel der um sich greifenden Entmenschlichung durch die Nazis deutlich sichtbar für jedermann an die Wand malte. Klaus Philipp spielt souverän die Hauptrolle, den jüdischen Kaufmann Otto Silbermann, der sich bis zum Novemberpogrom 1938 als Deutscher unter Deutschen fühlt. (…) Vollkommen uneitel und mit teils maschineller Exaktheit schlüpfen Agnes Decker, David Lau, Tobias Loth, Franziska Roth und André Stuchlik in die verschiedenen Rollen. Sie mimen die aaglatten Linientreuen ebenso wie die jede Verantwortung ablehnenden Mitläufer. Sie spielen die Draufhauer und die Verängstigten, die Weggucker und die Schweiger, die Profiteure und die Opfer, die Das-wird-schon-nicht-so-schlimm-werden-Träumer und die Wissenden. 
Was sie nicht spielen, sind die Kämpfer, diejenigen, die den Mut haben, den Finger in die Wunde zu legen und gegen Unrecht und Intoleranz anzugehen. Aber davon gab es damals zu wenige. Und davon gibt es heute, in Zeiten in denen Rassismus und Ausgrenzung, Flucht und und Vertreibung als alltägliches Geschehen schon wieder akzeptiert werden, auch zu wenige. 
Das macht das Stück so wichtig. Es rückt eine gesellschaftliche Gemütslage ins Rampenlicht, die von jedem im Publikum verlangt, Position zu beziehen – damit das braune Monster sich nicht wie auf der Bühne weiter aufbläst.
Westfalen-Blatt, 8. Oktober 2020 (zum Gastspiel in Gütersloh)

Die Inszenierung von Kathrin Mädler überzeugt in ihrer kargen und minimalistischen Umsetzung, düster und beklemmend das Bühnenbild, die Kostüme (beides Mareike Delaquis-Porschka) und die zurückhaltend dramatisierende Musik (Cico Beck). Grandios auch die einzige Requisite auf der ansonsten zu Beginn leer-schwarzen Bühne. „Der Reisende“: Eine eindrückliche Mahnung gegen das Vergessen und ein Aufruf für eine humane, tolerante und aufmerksame Gesellschaft.
Augsburger Allgemeine, 12. November 2019

Mädlers packende, wortkonzentrierte und in keiner Sekunde langatmige Inszenierung ist beklemmend. Unterstützt wird das durch ein unglaublich präsentes Ensemble, das ‚auf den Punkt‘ spielt. Und durch ein geniales Bühnenbild, das den Aufstieg des Nationalsozialismus perfekt wiedergibt: ein grauer Stoff, der sich, anfangs unbemerkt, immer weiter aufbläst. Ein Stoff, in dem die Schauspieler versinken, unter dem sie sich verkriechen, der ihnen die Luft raubt. Und aus dem am Ende das Grauen erwächst. Selten ist Theater so beklemmend wie in diesem Moment. Björn Höcke, „Mitte der AfD“, schreibt, eine Regierung müsse „Maßnahmen ergreifen, die ihrem eigentlichen moralischen Empfinden zuwiderlaufen“ und eine Politik der „wohltemperierten Grausamkeit“ ausüben. Vor einer Synagoge werden Menschen erschossen. Menschen anderer Herkunft werden zur Bedrohung stilisiert. Da holt jemand tief Luft, um ein Monster aufzublasen. Zeit, die Gutgläubigkeit abzulegen.
Der Kreisbote, 10. November 2019 zum Gastspiel in Landsberg am Lech)


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